Die Leichtathletik als Schwestersportart als Vorbild
Die Leichtathletik mit Hund lässt ich sich in vielen Bereichen vergleichen mit ihrer Schwestersportart Leichtathletik. Aus der Leichtathletik habe ich für den Hundesport beispielsweise Konzepte zur Periodisierung des Trainings abgeleitet (siehe Mit-System-Trainieren.de). Was die Aspekte Professionalität und Ernsthaftigkeit einen Sport zu betreiben anbetrifft, lässt sich die Leichtathletik ebenfalls sehr gut als Vorbild und Standortbestimmung heranziehen.
Um den Kontext des Leistungssports besser zu verdeutlichen, beginne ich mit einem Top-Down-Ansatz, das oberhalb des Niveaus von Leandro ansetzt. Damit verfolge ich das Ziel, den Blick zu schärfen für das Sinnhafte und Machbare. Ein Training, das die Teams überfordert bringt genauso wenig etwas wie ein Training, das unterfordert und somit keinen Fortschritt ermöglicht.
Neben dem Hundesport habe ich mehr als 15 Jahre Leistungssport mit dem Schwerpunkt auf die kurzen Mittelstrecken betrieben. Zwei Referenzwert dazu: Meine Bestleistung über 1.000 Meter liegt bei 2:31 Min., die – wohlgemerkt – ohne Zugunterstützung eines Hundes erzielt wurde. Ohne spezielles Sprinttraining erreichte ich über 400-Meter eine Zeit, die einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 9,58 Sekunden über 75 m entspricht.
Nach einigen Jahre wechselte ich zum VfL Sindelfingen und kam ich in eine Trainingsgruppe mit einer Reihe zum Teil hochklassiger Läufer und Läuferinnen. Zwei Namen dürfen dabei auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sein: Philipp Pflieger – Host des Bestzeit-Podcast – begann seine läuferische Karriere als Jugendlicher in Sindelfingen, bevor er einige Jahre später [nach meiner aktiven Zeit] 2016 die Deutschen Farben bei den olympischen Spielen im Marathon in Rio vertreten hat und Nico Motchebon, der u.a. 1996 Olympia-Fünfter über 800 m wurde.
Wenn auch nicht fest zur Gruppe zugehörig, sah ich Nico regelmäßig im Training und wir haben in meinen Augen zum Teil verrückte Trainingseinheiten zusammen gemacht. Nico hatte darauf eine andere Sichtweise: Er wollte 2004 zum dritten Mal zu olympischen Spielen und weil es im Januar schneeglatt war und er eine Verletzung fürchtete, liefen wir zum Beispiel einen 10 Kilometer-Dauerlauf indoor im Sindelfinger Glaspalast.
Gesamtbelastung und Belastungssteuerung
In der Leichtathletik gilt das ungeschriebene Gesetz, dass je größer die Gruppe ist, desto mehr nimmt das Training Wettkampfcharakter an. Das war vor allem in den Ostertrainingslagern im italienischen Cervia zu beobachten, das zu diesem Zeitpunkt das Mekka ambitionierte Mittel- und Langstreckenläufer aus Süddeutschland ist.
Einige überzogen vor allem dann, wenn die Trainingsgruppen übergreifende Programme absolvierten und sie deutlich stärkeren Läufern Paroli bieten wollten. Die „schossen“ sich dann ab und bis die eigentliche Wettkampfsaison im Mai begann, war von ihnen nicht mehr viel zu sehen. Hier trennte sich auch bei den Trainern die Spreu vom Weizen. Die erfahrenen Trainer waren in der Lage, die Zeitvorgaben für die Trainingsprogramme so zu setzen, dass ihre Athleten das auch verkraften konnten.

Auf Grund einer entzündeten Wachstumsfuge haben wir Leandro 2022 nur sehr vorsichtig belastet. Hier machte er Tempoläufe am Berg mit kurzen Pausen, um die Streckenlänge zu reduzieren. Das Ein- und Auslaufen ersetzten wir durch Fahrradfahren.
Auf einer anderen Ebene hat mich mit Eva Rapp ein ehemaliges Vereinsmitglied geprägt. Sie war über viele Jahre hinweg Bundestrainerin im Mehrkampf in der Leichtathletik. Das Thema Sprint- und Hürdentechnik habe ich von ihr nochmals von einer ganz anderen Seite vermittelt bekommen.
Mit Blick auf den Hundesport sind Hundeführer eine Ausnahme, die schon zuvor Leistungssport betrieben hatten. Teams wie Mahela Gartner (früher Tennisprofi, in ihrem ersten THS-Jahr wurde sie dhv-Meisterin im S-VK) oder Anja de Haan (als 400-m-Hürdenläuferin Teilnehmerin bei Deutschen Meisterschaften) sind die Ausnahme. Belastungen und Belastungssteuerung nach Kriterien des Leistungssports sind in der Hundesportszene deshalb weitestgehend Neuland.
Mir fiel im letzten Jahr auf, dass die CaniCross-Szene geprägt war durch eine Reihe von zum Teil schweren Verletzungen bei Top-Athleten. Wahrscheinlich sieht es in den Stadiondisziplinen nicht viel besser aus, dort ist es aber nicht so transparent. Viel hilft viel geht nur eine Weile gut. Alles andere sind Materialproben, die in Verletzungen münden. In den sozialen Medien kann man Zeuge von Übungen werden, die mir schon vom Zuschauen Schmerzen bereiten:
- Falsche Ausführung von Drills: Koordinationsübungen sind zwar sehr wichtig für die Laufökonomie, falsch ausgeführt bewirken sie das Gegenteil
- Zugwiderstandsläufe: Viel wichtiger ist es schnelle Bewegungen durchzuführen, anstatt Kraft aufbauen zu wollen. Zugwiderstandsläufe sind Trainingsmittel, die erst im Top-Bereich Sinn machend eingesetzt werden.
- Kraftübungen aus dem Gewichtheber-Training: Fairerweise muss ich sagen, dass diese in den Leichtathletikkreisen auch noch verbreitet sind. Versierte Trainer von Top-Athleten ersetzen diese Heutzutage durch funktionales Krafttraining. Dazu passt der in der Szene viel diskutierte und leichtgewichtige Kanadier Ethan Katzberg, der 2023 zum jüngsten Hammerwurf-Weltmeister aller Zeiten gekürt wurde. Das ist ebenfalls zu sehen bei einer Femko Bol, die überragende europäische 400 m und 400 m Hürden Läuferin.

Die Verbesserung der Lauftechnik kann mit Drills (Koordinationsübungen) verbessert werden. Das Anfersen [links] – häufig in Verbindung mit einer Vorlage des Oberkörpers, ist ein beliebte Übung, vermittelt aber ein veraltetes Technikbild. Zeitgemäß ist das Unterfersen [rechts].

Falsches Nachahmen kann ungesund sein. Fallende Fußzehen [links] führen u.a. zu einer Bremsbewegung, die vor allem im Hürdenlauf unangenehme Stoßkräfte auf den Rücken weiterleitet. Richtig ist eine Dorsiflexion, also dass die Fußzehen nach oben zeigen [rechts].
Wenn dem Machbaren Grenzen gesetzt sind, sollten die Trainingsinhalte auf den Prüfstand gestellt werden. Es gilt zu überlegen, was unter den gegebenen Umständen am meisten Sinn macht, um die Potentiale bestmöglich auszuschöpfen. Vor einigen Jahren hatte ich eine Vierkämpferin in meiner Trainingsgruppe, die zu ihrer Zeit zu den Top-Vierkämpferinnen in Deutschland gehörte (u.a. Champions-Cup-Gewinnerin mit 280 Punkten und Deutsche Meisterin). Sie arbeitete als Krankenschwester im Wechseldienst. Nach einer Nachtschicht waren bei ihr zum Beispiel keine intensiven Belastungen möglich, weil sie Kreislaufprobleme bekam. Deshalb verzichteten wir in diesen Trainingseinheiten auf maximale Sprints. Wir ersetzten diese durch submaximale Läufe und In-&Outs, um die Belastung auf das Herz-Kreislauf-System zu reduzieren, setzen aber gleichzeitig neue Reize, die ihre Leistungsfähigkeit trotzdem steigerten.
Was das Thema Belastungsverträglichkeit anbetrifft hatten wir bei Leandro eine sehr spezielle, um nicht zu sagen diffizile Situation: Im Winter 2021/2022 fing Leandro an, mit Coco für den Sprint-Vierkampf zu trainieren. Ab Januar ´22 war für fünf Monate gar kein Training möglich, weil sich die Wachstumsfuge entzündete. Danach folgten nochmals drei Monate mit eingeschränktem Training. Im März 2023 dann die nächste längere Zwangspause. Auf Grund eines Fouls in einem Fußballspiel zog er sich einen Muskelbündelriss in der Hüfte zu, was weitere 10 Wochen Ausfall bedeuteten.
Nicht das Potenzial eines Teams bestimmt den Trainingsplan, sondern die Rahmenbedingungen. Auf Grund der langen Ausfallzeiten in Kombination mit dem starken Wachstum waren bei Leandro erhebliche Abstriche in der Gesamtbelastung notwendig. Ein starker Motor nützt nichts, wenn der Antriebsstrang das nicht aushält. Zu den Ausfallzeiten, bei denen wir machtlos waren, wollten wir nicht noch hausgemachte Ausfallzeiten durch zu hohe Trainingsumfänge und -Intensitäten hinzufügen.